NARDA

Roran hockte da und kratzte sich am Bart, während er auf Narda hinabschaute. Die Häuser waren an der Küste aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur. Dahinter glitzerte die See weinrot im Lichtschein der untergehenden Sonne. Das Wasser faszinierte ihn - es war so anders als die Landschaft, die er gewohnt war.
Wir haben es geschafft!
Roran verließ den Felsvorsprung und kehrte zu seinem notdürftig errichteten Zelt zurück, sog genüsslich die salzige Seeluft ein. Sie hatten ihr Lager weit oben in den Ausläufern des Buckels aufgeschlagen, damit die Männer des Imperiums sie nicht entdeckten.
Als er unter den Bäumen an den Gruppen der Dorfbewohner vorbeiging, sah Roran besorgt und wütend, in welch erbärmlichem Zustand sie waren. Auf dem langen Marsch aus dem Palancar-Tal waren viele krank geworden. Sie waren alle mitgenommen und völlig erschöpft. Ihre ausgemergelten Gesichter kündeten von Unterernährung, ihre Kleidung war zerschlissen. Fast jeder hatte sich Lumpen um die Hände gewickelt, um sich in den eisigen Gebirgsnächten vor Erfrierungen zu schützen. Einst stolze Schultern waren gebeugt, nachdem sie wochenlang schwere Lasten geschleppt hatten. Doch den schlimmsten Anblick boten die Kinder: Sie waren dürr und unnatürlich still.
Diese Menschen haben etwas Besseres verdient, dachte Roran. Hätten sie mich nicht beschützt, befände ich mich jetzt in den Klauen der Ra’zac.
Zahlreiche Leute kamen auf Roran zu. Die meisten wollten nichts weiter als ein Schulterklopfen oder ein tröstendes Wort. Einige boten ihm etwas zu essen an, was er ablehnte oder annahm, wenn sie darauf bestanden, und dann an jemand anderen weitergab. Diejenigen, die sich von ihm fern hielten, beobachteten ihn aus großen, runden, glanzlosen Augen. Er wusste, dass sie ihm nachsagten, er wäre wahnsinnig und von Geistern besessen und nicht einmal die Ra’zac könnten ihn im Kampf besiegen.
Den Buckel zu überqueren, war schwerer gewesen, als selbst Roran es erwartet hatte. Die einzigen sichtbaren Pfade durch den Wald waren Wildwechsel gewesen, die zu schmal, zu steil oder zu verschlungen waren, als dass die Dorfbewohner ihnen hätten folgen können. Deshalb hatten sie sich häufig durchs Unterholz schlagen müssen, was eine ungeheure Mühsal war, die alle verabscheuten, nicht zuletzt deshalb, weil sie so Spuren legten, auf denen die Schergen des Imperiums sie leicht verfolgen konnten. Der einzige Vorteil war, dass Roran auf diese Weise seine verletzte Schulter trainierte und zu alter Stärke zurückfand, obwohl er immer noch Schwierigkeiten hatte, den Arm über eine bestimmte Höhe hinaus zu heben.
Andere Widrigkeiten forderten ebenfalls ihren Tribut. Auf einem kahlen Gebirgspass oberhalb der Baumgrenze hatte sie ein Sturm überrascht. Drei Menschen waren im Schneegestöber erfroren: Hida, Brenna und Nesbit, die alle schon sehr alt gewesen waren. In jener Nacht war Roran zum ersten Mal davon überzeugt gewesen, dass die Dorfbewohner allesamt sterben würden, nur weil sie ihm gefolgt waren. Kurz danach brach sich ein Junge bei einem Sturz den Arm und dann ertrank Southwell in einem Gletscherfluss. Wölfe und Bären ignorierten die Wachfeuer, die die Dorfbewohner entzündeten, seit man sie vom Palancar-Tal aus nicht mehr sehen konnte, und rissen regelmäßig ihr Vieh. Der Hunger nagte an den Menschen wie ein erbarmungsloses Raubtier, fraß sich in ihre Gedärme, raubte ihnen die Kraft und zersetzte ihren Willen, den mühseligen Marsch fortzusetzen.
Trotzdem überlebten sie und bewiesen dabei dieselbe Ausdauer und Tapferkeit, die ihre Ahnen trotz Hungersnöten, Krieg und Pestilenz im Palancar-Tal hatten bleiben lassen. Die Menschen aus Carvahall mochten eine Ewigkeit brauchen, um einen Entschluss zu fassen, aber wenn es einmal vollbracht war, konnte sie nichts mehr von ihrem Vorhaben abbringen.
Mit der Hafenstadt Narda vor Augen, machten sich im Lager eine zarte Hoffnung und vorsichtiger Optimismus breit. Niemand wusste, was ihnen als Nächstes bevorstand, aber die Tatsache, überhaupt so weit gekommen zu sein, erfüllte sie mit Zuversicht.
Wir sind erst in Sicherheit, wenn wir das Imperium verlassen haben, dachte Roran. Und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass man uns nicht gefangen nimmt. Ich bin für jeden hier verantwortlich...Diese Verantwortung hatte er aus ganzem Herzen auf sich genommen, weil es ihm sowohl erlaubte, die Dorfbewohner vor Galbatorix zu schützen, als auch sein eigentliches Ziel zu verfolgen, nämlich Katrina zu befreien. Es ist schon so lange her, seit sie entführt wurde. Ob sie überhaupt noch am Leben ist? Er schauderte und verdrängte den Gedanken. Wenn er zuließ, dass er über Katrinas Schicksal nachgrübelte, würde er wahnsinnig werden.
 
Im Morgengrauen brachen Roran, Horst, Baldor, Lorings drei Söhne und Gertrude nach Narda auf. Sie stiegen von den Hügeln zur Straße hinunter, die in die Stadt führte, und gaben dabei Acht, dass sie niemand sah, bis sie unten ankamen. Hier im Tiefland kam Roran die Luft dicker vor; es fühlte sich fast an, als würde er unter Wasser atmen.
Er packte den im Gürtel steckenden Hammer, als sie auf Nardas Stadttor zugingen. Zwei Soldaten hielten davor Wache. Sie musterten Roran und seine Gefährten mit harten Blicken, betrachteten ihre zerlumpte Kleidung, dann kreuzten sie die Lanzen und versperrten ihnen den Weg.
»Woher kommt ihr?«, fragte einer der beiden. Der Mann war höchstens fünfundzwanzig, aber sein Haar war bereits schlohweiß.
Die Brust vorgeschoben, verschränkte Horst die Arme und sagte: »Aus der Gegend um Teirm, wenn’s beliebt.«
»Was wollt ihr hier?«
»Einkäufe tätigen. Wir wurden von Ladenbesitzern hergeschickt, die ihre Waren direkt aus Narda kaufen wollen, statt sie wie üblich von Zwischenhändlern zu erwerben.«
»Soso. Welche Waren denn?«
Als Horst stockte, kam ihm Gertrude zu Hilfe. »Ich suche Kräuter und Medizin. Die Pflanzen, die man mir liefert, sind entweder zu alt oder verschimmelt und verdorben. Ich muss einen frischen Vorrat anlegen.«
»Meine Brüder und ich«, fuhr Darmmen fort, »wollen mit euren Schuhmachern handeln. Schuhwerk im nördlichen Modestil ist in Dras-Leona und Urû’baen sehr gefragt.« Er verzog das Gesicht. »Jedenfalls war es das, als wir aufgebrochen sind.«
Horst hatte neuen Mut geschöpft und nickte eifrig. »Ja. Und ich soll eine Ladung Schmiedeeisen für meinen Meister besorgen.«
»Was ihr nicht sagt. Und was ist mit dem da? Was soll der kaufen?« Der Soldat deutete auf Roran.
»Töpferwaren«, erwiderte Roran.
»Töpferwaren?«
»Ganz genau.«
»Und wozu brauchst du diesen Hammer?«
»Wie, glaubst du wohl, bekommen Töpferwaren ihre Glasur? So etwas passiert nicht von allein. Man muss sie aufklopfen.« Roran begegnete dem ungläubigen Starren des weißhaarigen Soldaten mit teilnahmsloser Miene. Sollte der Kerl seine Behauptung doch ruhig anzweifeln, wenn er unbedingt wollte.
Der Soldat knurrte und ließ den Blick noch einmal über die kleine Gruppe wandern. »Wie auch immer, auf mich wirkt ihr nicht wie Kaufleute. Eher wie ausgehungerte Straßenköter.«
»Wir hatten unterwegs einige Schwierigkeiten«, erklärte Gertrude.
»Das glaube ich gerne. Wenn ihr aus Teirm kommt, wo sind dann Eure Pferde abgeblieben?«
»Wir haben sie im Lager gelassen«, erklärte Hamund. Er deutete nach Süden, in die entgegengesetzte Richtung der Stelle, wo sich die Dorfbewohner versteckten.
»Ihr habt wohl nicht genug Geld, um in der Stadt zu übernachten, was?« Mit einem verächtlichen Lachen zog der Soldat die Lanze beiseite und bedeutete seinem Kameraden, das Gleiche zu tun. »Gut, ihr dürft passieren. Aber macht keinen Ärger, sonst landet ihr im Kerker!«
Als sie das Tor passiert hatten, zog Horst Roran zur Seite und knurrte ihm ins Ohr: »Das war wirklich dumm. Die Glasur mit einem Hammer aufklopfen! Willst du unbedingt, dass sie uns hochnehmen? Wir können nicht -« Er verstummte, als Gertrude ihm am Ärmel zupfte.
»Seht doch«, murmelte die Heilerin.
Links neben dem Stadttor hing ein breites Nachrichtenbrett unter einem schmalen Schindeldach, das die vergilbten Pergamente schützte. Die Hälfte des Bretts war mit offiziellen Verlautbarungen tapeziert. Auf der anderen Seite hingen mehrere Plakate mit Zeichnungen von gesuchten Verbrechern. Und ganz oben prangte eine Zeichnung von Roran - ohne Bart.
Roran sah sich erschrocken um und vergewisserte sich, dass ihm niemand auf der Straße nah genug war, um sein Gesicht mit der Zeichnung vergleichen zu können. Dann betrachtete er das Plakat genauer. Er hatte damit gerechnet, dass das Imperium sie verfolgte, aber nun den endgültigen Beweis dafür vor Augen zu haben, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Galbatorix muss enorme Mittel aufwenden, um uns aufzuspüren, dachte er. Während sie über den Buckel gezogen waren, hatten sie beinahe vergessen, dass es noch eine andere Welt gab. Ich wette, die Plakate hängen im ganzen Imperium. Roran grinste und war froh, dass er inzwischen einen dichten Bart trug und dass sie sich darauf geeinigt hatten, in Narda falsche Namen zu benutzen.
Am unteren Rand des Plakats stand die Höhe der Belohnung. Garrow hatte Roran und Eragon nie das Lesen beigebracht, wohl aber das Rechnen. »Ihr müsst doch wissen, wie viel ihr besitzt, was es wert ist und wie viel man euch dafür bezahlt, denn sonst haut euch jeder dahergelaufene Halunke übers Ohr«, hatte er immer gesagt. Deshalb konnte Roran entziffern, dass das Imperium für seine Ergreifung zehntausend Kronen bot. Mit dieser Summe konnte man jahrzehntelang in bescheidenem Komfort leben! Auf eine perverse Art und Weise freute er sich über die Höhe der Belohnung, denn sie verlieh ihm ein Gefühl von Bedeutung.
Dann fiel sein Blick auf das nächste Plakat in der Reihe.
Es zeigte Eragon.
Rorans Magen krampfte sich zusammen, als hätte man ihm in den Bauch geschlagen, und er vergaß einige Sekunden lang zu atmen.
Er lebt!
Als seine erste Erleichterung abflaute, spürte Roran, wie in ihm die alte Wut auf Eragon aufstieg, der der Zerstörung ihres Hofes und dem sterbenden Garrow einfach den Rücken gekehrt hatte. Gleichzeitig wollte er brennend gern erfahren, warum das Imperium Eragon ergreifen wollte. Es muss etwas mit dem blauen Stein und dem ersten Besuch der Ra’zac in Carvahall zu tun haben! Erneut fragte sich Roran, in welch finstere Machenschaften er und die anderen Dorfbewohner wohl hineingeraten waren.
Statt einer Belohnung stand ein kurzer Text auf Eragons Aushang. »Was wirft man ihm vor?«, fragte Roran Gertrude.
Gertrude starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Brett. »Hochverrat. Das gilt für euch beide. Da steht, dass Galbatorix denjenigen, der Eragon fängt, mit einem Fürstentum entlohnen will. Jeder, der es versucht, soll sehr vorsichtig sein, weil Eragon außerordentlich gefährlich ist.«
Roran blinzelte erstaunt. Eragon... gefährlich? Es war unvorstellbar, bis ihm bewusst wurde, wie sehr er selbst sich in den letzten Wochen verändert hatte. In unseren Adern fließt dasselbe Blut. Wer weiß, vielleicht hat Eragon ja noch mehr vollbracht als ich, seit er fortgegangen ist.
»Wenn für deine Ergreifung zehntausend Kronen ausgesetzt sind«, sagte Baldor leise, »was muss man dann erst anstellen, um ein ganzes Fürstentum wert zu sein?«
»Dem König persönlich aufs Dach steigen«, sagte Larne.
»Das reicht jetzt«, meinte Horst. »Hüte deine Zunge, Baldor, sonst enden wir noch im Kerker! Und du, Roran, errege bloß keine Aufmerksamkeit! Bei einer so hohen Belohnung sehen sich die Leute jeden Fremden genau an und schauen, ob irgendjemand deiner Beschreibung gleicht.« Horst fuhr sich mit der Hand durchs Haar und zog den Hosenbund hoch. »Also gut. Jeder weiß, was er zu tun hat. Kehrt gegen Mittag hierher zurück und erstattet Bericht!«
Sie teilten sich auf: Darmmen, Larne und Hamund gingen Verpflegung für die Dorfbewohner kaufen, für den sofortigen Verzehr wie auch als Proviant für die nächste Etappe ihrer Reise. Gertrude marschierte los, um - wie sie den Wachen gesagt hatte - ihren Vorrat an Heilkräutern, Salben und Tinkturen aufzustocken. Roran, Horst und Baldor begaben sich zum Hafen, wo sie ein Schiff zu finden hofften, das die Dorfbewohner nach Surda oder doch wenigstens bis nach Teirm bringen würde.
Als sie die verwitterte Uferpromenade erreichten, blieb Roran stehen und starrte auf den Ozean hinaus, der grau war unter den tief hängenden Wolken und mit weißen Schaumkronen gesprenkelt vom sprunghaften Wind. Roran hätte nie gedacht, dass der Horizont so flach sein konnte. Das hohle Schwappen, mit dem das Wasser gegen die Pfeiler unter ihm schlug, gab einem das Gefühl, man stünde auf einer riesigen Trommel. Der Gestank nach Fisch, frischem, ausgenommenem und verwesendem Fisch, überlagerte alle anderen Gerüche.
Horst schaute von Roran zu Baldor, der ebenfalls fasziniert schien. »Das ist ein Anblick, was?«
»Ja«, meinte Roran.
»Da kommt man sich plötzlich ganz winzig vor, stimmt’s?«
»Ja«, erklärte Baldor.
Horst nickte. »Das ging mir auch so, als ich den Ozean zum ersten Mal sah.«
»Wann war das?«, fragte Roran. Neben den über der Bucht kreisenden Möwenschwärmen bemerkte Roran noch andere merkwürdige Vögel, die auf dem Pier hockten. Die Tiere hatten einen plumpen Körper, einen gestreiften Schnabel, den sie wie ein aufgeblasener alter Wichtigtuer an die Brust drückten, einen weißen Kopf und Hals und einen rußschwarzen Körper. Als einer der Vögel den Schnabel hob, entblößte er darunter einen ledrigen Hautsack.
»Bartram, mein Meister«, erklärte Horst, »starb, als ich fünfzehn war, ein Jahr vor dem Ende meiner Lehrzeit. Ich musste mir einen Schmied suchen, der bereit war, die Arbeit eines anderen zu beenden. Also bin ich nach Ceunon gereist, einer Stadt am Nordmeer, und begab mich zu Kelton, einem launigen alten Furzkopf, der allerdings sein Handwerk verstand. Er hat eingewilligt, mich auszubilden.« Horst lachte. »Als es vorüber war, wusste ich nicht, ob ich ihm danken oder ihn verfluchen sollte.«
»Danken, finde ich«, erwiderte Baldor. »Ohne ihn hättest du Mutter nie kennen gelernt.«
Roran runzelte die Stirn, als er den kleinen Hafen betrachtete. »Besonders viele Boote sind das ja nicht«, stellte er fest. Zwei Frachtschiffe lagen am unteren Ende des Hafens vor Anker und ein drittes dümpelte im Norden, dazwischen schaukelten nur Fischkähne und kleinere Ruderboote auf den Wellen. Der Mast an einem der Frachter im Süden war offenkundig gebrochen. Roran hatte keine Erfahrung mit Schiffen, aber keines davon schien ihm groß genug für fast dreihundert Passagiere.
Roran, Horst und Baldor gingen von Schiff zu Schiff und erhielten überall die Auskunft, dass die Gefährte bereits belegt wären. Das Schiff mit dem gebrochenen Mast zu reparieren, würde mehr als einen Monat dauern. Die Wellenläufer, die daneben lag, hatte Ledersegel und würde in Kürze nach Norden in See stechen, zu den gefährlichen Inseln, wo die Seithr-Pflanze wuchs. Und die Albatros, das letzte der drei Frachtschiffe, war gerade aus dem fernen Feinster eingetroffen und sollte neu abgedichtet werden, bevor sie mit seiner Wollladung weiterfuhr.
Ein Hafenarbeiter lachte über Horsts Fragen. »Ihr seid gleichzeitig zu früh und zu spät gekommen. Die meisten Schiffe, die hier im Frühjahr vor Anker gehen, sind vor zwei, drei Wochen wieder ausgelaufen. In einem Monat setzen die Nordwestwinde ein, dann kehren die Robben- und Walrossfänger zurück. Zu der Zeit kommen viele Schiffe aus Teirm und aus dem Rest des Imperiums, um Häute, Fleisch und Öl zu laden. Dann findet ihr vielleicht einen Kapitän mit einem leeren Laderaum. Bis dahin herrscht hier nicht mehr Betrieb als heute.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit, um von hier nach Teirm Waren zu verschiffen?«, fragte Roran beinahe verzweifelt. »Es muss ja nicht schnell gehen und auch nicht gemütlich sein.«
»Tja...« Der Mann hob eine Holzkiste auf die Schulter. »Wenn ihr es nicht eilig habt und nur bis Teirm wollt, könnt ihr ja Clovis da drüben fragen.« Er deutete auf eine Reihe von Bootshäusern, die zwischen zwei Piers lagen. »Er besitzt ein paar Barken, mit denen er im Herbst Getreide verschifft. Den Rest des Jahres lebt Clovis vom Fischfang, wie fast jeder in Narda.« Dann runzelte er die Stirn. »Was für Güter wollt ihr denn verschiffen? Die Schafe sind schon geschoren und das Getreide ist noch nicht eingebracht.«
»Dies und das«, antwortete Horst ausweichend und warf dem Mann eine Kupfermünze zu.
Der Hafenarbeiter ließ die Münze zwinkernd in der Hosentasche verschwinden und stieß Horst verschwörerisch den Ellbogen in die Rippen. »Recht habt Ihr, Herr. Dies und das. Ich verstehe schon, aber habt keine Angst vor dem alten Ulric. Kein Wort darüber, schon klar! Bis bald, der Herr.« Er schlenderte pfeifend davon.
Wie sich herausstellte, war Clovis nicht am Hafen. Nachdem sie sich den Weg hatten beschreiben lassen, marschierten sie eine halbe Stunde zu seinem Haus, das auf der anderen Seite von Narda lag, und trafen ihn im Garten an, wo er am Weg zur Haustür Iriszwiebeln einpflanzte. Er war ein untersetzter Mann mit sonnengegerbten Wangen und grau meliertem Bart. Es dauerte eine Stunde, bis sie den Seemann davon überzeugt hatten, dass sie trotz der Jahreszeit wirklich an seinen Barken interessiert waren. Dann marschierten sie allesamt zum Hafen zurück, wo Clovis die Bootshäuser aufschloss. Drei identische Barken kamen zum Vorschein, die Annabell, die Edeline und die Rote Bache.
Jede Barke war fünfundzwanzig Meter lang, sieben Meter breit und rostrot angestrichen, hatte offene Laderäume, die man mit Planen verdecken konnte, einen Segelmast, der in der Bootsmitte aufgerichtet wurde, und am Heck - dem Achterdeck, wie Clovis es nannte - eine kastenförmige Kabine.
»Sie haben mehr Tiefgang als eine Binnenschute«, erklärte Clovis, »deshalb braucht man keine Angst zu haben, dass sie bei rauer See kentern, aber einen ausgewachsenen Sturm sollte man tunlichst vermeiden. Diese Barken sind nicht für das offene Meer geeignet. Man bleibt mit ihnen immer in Sichtweite der Küste. Und jetzt ist die schlechteste Jahreszeit, um mit ihnen auszulaufen. Bei meiner Ehre, wir erleben seit einem Monat nichts als Stürme.«
»Hast du Mannschaften für alle drei Boote?«, fragte Roran.
»Tja… Das ist ein Problem. Die meisten Männer, die ich beschäftige, sind seit Wochen auf Robbenfang. Da ich sie normalerweise erst wieder nach der Ernte brauche, können sie den Rest des Jahres kommen und gehen, wie sie wollen. Bestimmt versteht ihr Herren meine Situation.« Clovis lächelte unsicher und schaute zwischen Roran, Horst und Baldor hin und her, als wüsste er nicht genau, wen er ansprechen sollte.
Roran ging an der Edeline entlang und suchte nach Beschädigungen. Die Barke sah alt aus, aber das Holz war fest und der Anstrich frisch. »Wenn wir die fehlenden Männer deiner Mannschaft ersetzen, wie viel würde es dann kosten, mit allen drei Barken nach Teirm zu segeln?«
»Kommt darauf an«, antwortete Clovis. »Die Matrosen verdienen fünfzehn Kupferstücke am Tag, dazu kriegen sie so viel zu essen, wie sie herunterschlingen können, und obendrauf einen Becher Whiskey. Was eure Männer bekommen, ist eure Sache. Sie stehen ja nicht auf meiner Lohnliste. Normalerweise heuern wir für die Boote auch Wachen an, aber die sind -«
»Auf Robbenjagd, klar«, unterbrach Roran ihn. »Wir stellen auch die Wachen.«
Clovis’ Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er schluckte. »Das wäre mehr als vernünftig... Zusätzlich zur Mannschaftsheuer berechne ich zweihundert Kronen plus Ersatz für jeden Schaden, den eure Leute an den Booten verursachen, und obendrein zwölf Prozent vom Verkauf der Fracht für mich als Eigner und Kapitän.«
»Wir haben nichts zu verkaufen.«
Dieser Punkt schien Clovis zu missfallen. Er rieb sich das Kinn, setzte zweimal zu einer Antwort an und hielt jedes Mal inne. Schließlich sagte er: »In diesem Fall berechne ich vierhundert Kronen nach Abschluss der Reise. Was wollt ihr überhaupt transportieren, wenn ich mir die Frage erlauben darf?«
Wir machen ihm Angst, dachte Roran. »Vieh.«
»Schafe, Rinder, Pferde, Ziegen, Ochsen?«
»Wir haben alle möglichen Tiere dabei.«
»Und warum wollt ihr sie nach Teirm bringen?«
»Wir haben unsere Gründe.« Roran lächelte fast über Clovis’ Verwirrung. »Würdest du auch weiter segeln als nur bis Teirm?«
»Niemals! Teirm ist die Grenze. Ich kenne die Gewässer dahinter nicht und ich möchte auch nicht so lange von meiner Familie getrennt sein.«
»Wann kannst du auslaufen?«
Clovis zögerte. »Vielleicht in fünf oder sechs Tagen. Nein, besser in einer Woche. Ich muss vorher noch ein paar Dinge erledigen.«
»Du bekommst zehn Kronen mehr, wenn wir übermorgen in See stechen.«
»Das ist nicht -«
»Zwölf Kronen.«
»Na schön, übermorgen«, lenkte Clovis ein. »Irgendwie werde ich das schon regeln.«
Roran nickte, ohne Clovis dabei anzusehen, und strich mit der Hand über das Dollbord der Barke. »Könnten meine Gefährten und ich uns vielleicht ein paar Minuten beraten?«
»Sicher. Ich drehe draußen eine Runde, bis ihr euch besprochen habt.« Clovis eilte zur Bootshaustür. Bevor er hinausging, drehte er sich noch einmal um und fragte: »Wie war noch gleich dein Name? Ich habe ihn vorhin nicht richtig verstanden und mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das Beste.«
»Hammerfaust. Mein Name ist Hammerfaust.«
»Ah, natürlich. Das ist ein guter Name.«
Als die Tür ins Schloss fiel, wandten sich Horst und Baldor zu Roran um. »Wir können es uns nicht leisten, ihn anzuheuern«, erklärte Baldor.
»Wir können es uns nicht leisten, es nicht zu tun«, widersprach Roran. »Wir haben weder das Gold, um die Barken zu kaufen, noch weiß ich, wie man sie steuert, und ich möchte es auch nicht über Nacht lernen müssen, wenn unser aller Leben von meinen Navigationskünsten abhängt. Es ist schneller und sicherer, wenn wir eine Mannschaft bezahlen.«
»Es ist trotzdem zu teuer«, sagte Horst.
Roran trommelte mit den Fingern auf das Dollbord. »Wir geben Clovis erst einmal die zweihundert Kronen. In Teirm werden wir die Barken entweder stehlen und sie selbst steuern, da wir bis dahin das Matrosenhandwerk gelernt haben sollten, oder wir setzen Clovis und seine Mannschaft außer Gefecht, bis wir auf andere Art weiterziehen können. Auf diese Weise sparen wir die zusätzlichen vierhundert Kronen und die Heuer für die Matrosen.«
»Es gefällt mir nicht, einen Mann um die Früchte seiner Arbeit zu bringen«, wandte Horst unwillig ein. »Das geht mir gegen den Strich.«
»Mir gefällt es auch nicht, aber hast du einen besseren Vorschlag?«
»Wie sollen die Dorfbewohner auf die Barken kommen?«
»Sie sollen irgendwo an der Küste auf uns warten. Wir nehmen sie an einer Stelle an Bord, wo man uns von Narda aus nicht beobachten kann.«
Horst seufzte. »Gut, so machen wir es, obwohl es mir nicht schmeckt. Ruf Clovis wieder herein, Baldor, dann besiegeln wir das Geschäft.«
 
Am Abend versammelten sich die Dorfbewohner um ein kleines Lagerfeuer und ließen sich berichten, was in Narda geschehen war. Roran starrte in die glühenden Kohlen und hörte zu, wie Gertrude und die drei Brüder ihre Abenteuer schilderten. Als sie Rorans und Eragons Steckbriefe erwähnten, machte sich ein unbehagliches Raunen in der Runde breit.
Als Darmmen zu Ende gesprochen hatte, ergriff Horst das Wort und berichtete in knappen Sätzen, wie wenig Schiffe es in Narda gab, wie man sie an Clovis verwiesen hatte und was sie mit ihm vereinbart hatten. Als er am Ende die Barken erwähnte, ging seine Stimme in den wütenden Protesten der Dorfbewohner unter.
Loring kam nach vorne und hob gebieterisch die Arme. »Barken?«, fragte der Schuhmacher. »Barken? Wir wollen keine stinkenden Viehkutter!« Er spuckte auf den Boden. Die Leute grölten zustimmend.
»Ruhe!«, rief Delwin. »Man wird uns noch bemerken, wenn wir so viel Krach machen!« Als nur noch das Knistern des Feuers zu hören war, fuhr er etwas gelassener fort: »Ich stimme Loring zu. Barken sind inakzeptabel. Sie sind zu langsam und man kann sie leicht entern. Wir werden darin wie Tiere zusammengepfercht sein und haben wer weiß wie lange keinen nennenswerten Schutz über dem Kopf. Horst, Elain ist im sechsten Monat schwanger. Du kannst doch nicht allen Ernstes verlangen, dass deine Frau und die Kranken und Alten wochenlang in der glühenden Sonne sitzen!«
»Man kann Planen über die Laderäume spannen«, entgegnete Horst. »Das ist zwar nicht viel, aber sie halten Sonne und Regen ab.«
Birgits Stimme erhob sich über das Gemurmel der Leute. »Ich habe eine andere Sorge.« Die Leute rutschten zur Seite, als sie ans Feuer herantrat. »Wenn man die zweihundert Kronen für Clovis und das Geld, das Drammen und seine Brüder für die Einkäufe ausgegeben haben, abzieht, sind unsere Rücklagen fast erschöpft. Anders als bei den Städtern besteht unser Vermögen nicht aus Gold, sondern aus Tieren und Feldern. Unser Land haben wir aufgegeben und wir besitzen kaum noch Vieh. Selbst wenn wir uns wie Piraten aufführen und die Barken stehlen - wie sollen wir uns in Teirm Lebensmittel kaufen, geschweige denn weiter nach Süden reisen?«
»Am wichtigsten ist«, brummte Horst, »erst einmal Teirm zu erreichen. Dort können wir uns immer noch überlegen, wie es weitergeht. Möglicherweise müssen wir drastischere Maßnahmen ergreifen.«
Loring verzog das knochige Gesicht. »Drastischere Maßnahmen? Was meinst du damit? Wir haben schon jede Menge drastischer Maßnahmen unternommen. Diese ganze Reise ist drastisch! Mir ist egal, was du sagst. Ich werde diese verdammten Barken nicht besteigen, nicht nach alledem, was wir im Buckel durchgemacht haben. Barken sind für Getreide und Vieh gedacht. Wir wollen ein Schiff mit Kajüten und Kojen, in denen wir bequem schlafen können. Warum warten wir nicht einfach noch eine Woche, bis ein Schiff kommt, auf dem wir eine Passage buchen können? Was kann es groß schaden?« Er zeterte noch eine Viertelstunde weiter, bevor er schließlich Thane und Ridley das Wort überließ, die ins gleiche Horn stießen.
Alle hielten inne, als Roran aufstand. Er ließ die Leute allein durch seine Ausstrahlung verstummen. Sie warteten gespannt und hofften, dass er wieder eine seiner flammenden Reden halten würde.
»Entweder besteigt ihr die Barken oder ihr lauft«, erklärte er.
Dann ging er schlafen.

 

 

Der Auftrag des Aeltesten
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