NARDA
Roran
hockte da und kratzte sich am Bart, während er auf Narda
hinabschaute. Die Häuser waren an der Küste aufgereiht wie Perlen
auf einer Schnur. Dahinter glitzerte die See weinrot im Lichtschein
der untergehenden Sonne. Das Wasser faszinierte ihn - es war so
anders als die Landschaft, die er gewohnt war.
Wir haben es
geschafft!
Roran verließ den Felsvorsprung und kehrte
zu seinem notdürftig errichteten Zelt zurück, sog genüsslich die
salzige Seeluft ein. Sie hatten ihr Lager weit oben in den
Ausläufern des Buckels aufgeschlagen, damit die Männer des
Imperiums sie nicht entdeckten.
Als er unter den Bäumen an den Gruppen der
Dorfbewohner vorbeiging, sah Roran besorgt und wütend, in welch
erbärmlichem Zustand sie waren. Auf dem langen Marsch aus dem
Palancar-Tal waren viele krank geworden. Sie waren alle mitgenommen
und völlig erschöpft. Ihre ausgemergelten Gesichter kündeten von
Unterernährung, ihre Kleidung war zerschlissen. Fast jeder hatte
sich Lumpen um die Hände gewickelt, um sich in den eisigen
Gebirgsnächten vor Erfrierungen zu schützen. Einst stolze Schultern
waren gebeugt, nachdem sie wochenlang schwere Lasten geschleppt
hatten. Doch den schlimmsten Anblick boten die Kinder: Sie waren
dürr und unnatürlich still.
Diese Menschen haben
etwas Besseres verdient, dachte Roran. Hätten sie mich nicht beschützt, befände ich mich jetzt
in den Klauen der Ra’zac.
Zahlreiche Leute kamen auf Roran zu. Die
meisten wollten nichts weiter als ein Schulterklopfen oder ein
tröstendes Wort. Einige boten ihm etwas zu essen an, was er
ablehnte oder annahm, wenn sie darauf bestanden, und dann an jemand
anderen weitergab. Diejenigen, die sich von ihm fern hielten,
beobachteten ihn aus großen, runden, glanzlosen Augen. Er wusste,
dass sie ihm nachsagten, er wäre wahnsinnig und von Geistern
besessen und nicht einmal die Ra’zac könnten ihn im Kampf
besiegen.
Den Buckel zu überqueren, war schwerer
gewesen, als selbst Roran es erwartet hatte. Die einzigen
sichtbaren Pfade durch den Wald waren Wildwechsel gewesen, die zu
schmal, zu steil oder zu verschlungen waren, als dass die
Dorfbewohner ihnen hätten folgen können. Deshalb hatten sie sich
häufig durchs Unterholz schlagen müssen, was eine ungeheure Mühsal
war, die alle verabscheuten, nicht zuletzt deshalb, weil sie so
Spuren legten, auf denen die Schergen des Imperiums sie leicht
verfolgen konnten. Der einzige Vorteil war, dass Roran auf diese
Weise seine verletzte Schulter trainierte und zu alter Stärke
zurückfand, obwohl er immer noch Schwierigkeiten hatte, den Arm
über eine bestimmte Höhe hinaus zu heben.
Andere Widrigkeiten forderten ebenfalls
ihren Tribut. Auf einem kahlen Gebirgspass oberhalb der Baumgrenze
hatte sie ein Sturm überrascht. Drei Menschen waren im
Schneegestöber erfroren: Hida, Brenna und Nesbit, die alle schon
sehr alt gewesen waren. In jener Nacht war Roran zum ersten Mal
davon überzeugt gewesen, dass die Dorfbewohner allesamt sterben
würden, nur weil sie ihm gefolgt waren. Kurz danach brach sich ein
Junge bei einem Sturz den Arm und dann ertrank Southwell in einem
Gletscherfluss. Wölfe und Bären ignorierten die Wachfeuer, die die
Dorfbewohner entzündeten, seit man sie vom Palancar-Tal aus nicht
mehr sehen konnte, und rissen regelmäßig ihr Vieh. Der Hunger nagte
an den Menschen wie ein erbarmungsloses Raubtier, fraß sich in ihre
Gedärme, raubte ihnen die Kraft und zersetzte ihren Willen, den
mühseligen Marsch fortzusetzen.
Trotzdem überlebten sie und bewiesen dabei
dieselbe Ausdauer und Tapferkeit, die ihre Ahnen trotz
Hungersnöten, Krieg und Pestilenz im Palancar-Tal hatten bleiben
lassen. Die Menschen aus Carvahall mochten eine Ewigkeit brauchen,
um einen Entschluss zu fassen, aber wenn es einmal vollbracht war,
konnte sie nichts mehr von ihrem Vorhaben abbringen.
Mit der Hafenstadt Narda vor Augen, machten
sich im Lager eine zarte Hoffnung und vorsichtiger Optimismus
breit. Niemand wusste, was ihnen als Nächstes bevorstand, aber die
Tatsache, überhaupt so weit gekommen zu sein, erfüllte sie mit
Zuversicht.
Wir sind erst in
Sicherheit, wenn wir das Imperium verlassen haben, dachte
Roran. Und es ist meine Aufgabe, dafür zu
sorgen, dass man uns nicht gefangen nimmt. Ich bin für jeden hier
verantwortlich...Diese Verantwortung hatte er aus ganzem
Herzen auf sich genommen, weil es ihm sowohl erlaubte, die
Dorfbewohner vor Galbatorix zu schützen, als auch sein eigentliches
Ziel zu verfolgen, nämlich Katrina zu befreien. Es ist schon so lange her, seit sie entführt wurde. Ob
sie überhaupt noch am Leben ist? Er schauderte und
verdrängte den Gedanken. Wenn er zuließ, dass er über Katrinas
Schicksal nachgrübelte, würde er wahnsinnig werden.
Im Morgengrauen brachen Roran, Horst,
Baldor, Lorings drei Söhne und Gertrude nach Narda auf. Sie stiegen
von den Hügeln zur Straße hinunter, die in die Stadt führte, und
gaben dabei Acht, dass sie niemand sah, bis sie unten ankamen. Hier
im Tiefland kam Roran die Luft dicker vor; es fühlte sich fast an,
als würde er unter Wasser atmen.
Er packte den im Gürtel steckenden Hammer,
als sie auf Nardas Stadttor zugingen. Zwei Soldaten hielten davor
Wache. Sie musterten Roran und seine Gefährten mit harten Blicken,
betrachteten ihre zerlumpte Kleidung, dann kreuzten sie die Lanzen
und versperrten ihnen den Weg.
»Woher kommt ihr?«, fragte einer der beiden.
Der Mann war höchstens fünfundzwanzig, aber sein Haar war bereits
schlohweiß.
Die Brust vorgeschoben, verschränkte Horst
die Arme und sagte: »Aus der Gegend um Teirm, wenn’s
beliebt.«
»Was wollt ihr hier?«
»Einkäufe tätigen. Wir wurden von
Ladenbesitzern hergeschickt, die ihre Waren direkt aus Narda kaufen
wollen, statt sie wie üblich von Zwischenhändlern zu
erwerben.«
»Soso. Welche Waren denn?«
Als Horst stockte, kam ihm Gertrude zu
Hilfe. »Ich suche Kräuter und Medizin. Die Pflanzen, die man mir
liefert, sind entweder zu alt oder verschimmelt und verdorben. Ich
muss einen frischen Vorrat anlegen.«
»Meine Brüder und ich«, fuhr Darmmen fort,
»wollen mit euren Schuhmachern handeln. Schuhwerk im nördlichen
Modestil ist in Dras-Leona und Urû’baen sehr gefragt.« Er verzog
das Gesicht. »Jedenfalls war es das, als wir aufgebrochen
sind.«
Horst hatte neuen Mut geschöpft und nickte
eifrig. »Ja. Und ich soll eine Ladung Schmiedeeisen für meinen
Meister besorgen.«
»Was ihr nicht sagt. Und was ist mit dem da?
Was soll der kaufen?« Der Soldat deutete auf Roran.
»Töpferwaren«, erwiderte Roran.
»Töpferwaren?«
»Ganz genau.«
»Und wozu brauchst du diesen Hammer?«
»Wie, glaubst du wohl, bekommen Töpferwaren
ihre Glasur? So etwas passiert nicht von allein. Man muss sie
aufklopfen.« Roran begegnete dem ungläubigen Starren des
weißhaarigen Soldaten mit teilnahmsloser Miene. Sollte der Kerl
seine Behauptung doch ruhig anzweifeln, wenn er unbedingt
wollte.
Der Soldat knurrte und ließ den Blick noch
einmal über die kleine Gruppe wandern. »Wie auch immer, auf mich
wirkt ihr nicht wie Kaufleute. Eher wie ausgehungerte
Straßenköter.«
»Wir hatten unterwegs einige
Schwierigkeiten«, erklärte Gertrude.
»Das glaube ich gerne. Wenn ihr aus Teirm
kommt, wo sind dann Eure Pferde abgeblieben?«
»Wir haben sie im Lager gelassen«, erklärte
Hamund. Er deutete nach Süden, in die entgegengesetzte Richtung der
Stelle, wo sich die Dorfbewohner versteckten.
»Ihr habt wohl nicht genug Geld, um in der
Stadt zu übernachten, was?« Mit einem verächtlichen Lachen zog der
Soldat die Lanze beiseite und bedeutete seinem Kameraden, das
Gleiche zu tun. »Gut, ihr dürft passieren. Aber macht keinen Ärger,
sonst landet ihr im Kerker!«
Als sie das Tor passiert hatten, zog Horst
Roran zur Seite und knurrte ihm ins Ohr: »Das war wirklich dumm.
Die Glasur mit einem Hammer aufklopfen! Willst du unbedingt, dass
sie uns hochnehmen? Wir können nicht -« Er verstummte, als Gertrude
ihm am Ärmel zupfte.
»Seht doch«, murmelte die Heilerin.
Links neben dem Stadttor hing ein breites
Nachrichtenbrett unter einem schmalen Schindeldach, das die
vergilbten Pergamente schützte. Die Hälfte des Bretts war mit
offiziellen Verlautbarungen tapeziert. Auf der anderen Seite hingen
mehrere Plakate mit Zeichnungen von gesuchten Verbrechern. Und ganz
oben prangte eine Zeichnung von Roran - ohne Bart.
Roran sah sich erschrocken um und
vergewisserte sich, dass ihm niemand auf der Straße nah genug war,
um sein Gesicht mit der Zeichnung vergleichen zu können. Dann
betrachtete er das Plakat genauer. Er hatte damit gerechnet, dass
das Imperium sie verfolgte, aber nun den endgültigen Beweis dafür
vor Augen zu haben, versetzte ihn in Angst und
Schrecken. Galbatorix muss enorme Mittel
aufwenden, um uns aufzuspüren, dachte er. Während sie über den Buckel gezogen waren,
hatten sie beinahe vergessen, dass es noch eine andere Welt
gab. Ich wette, die Plakate hängen im
ganzen Imperium. Roran grinste und war froh, dass er
inzwischen einen dichten Bart trug und dass sie sich darauf
geeinigt hatten, in Narda falsche Namen zu benutzen.
Am unteren Rand des Plakats stand die Höhe
der Belohnung. Garrow hatte Roran und Eragon nie das Lesen
beigebracht, wohl aber das Rechnen. »Ihr müsst doch wissen, wie
viel ihr besitzt, was es wert ist und wie viel man euch dafür
bezahlt, denn sonst haut euch jeder dahergelaufene Halunke übers
Ohr«, hatte er immer gesagt. Deshalb konnte Roran entziffern, dass
das Imperium für seine Ergreifung zehntausend Kronen bot. Mit
dieser Summe konnte man jahrzehntelang in bescheidenem Komfort
leben! Auf eine perverse Art und Weise freute er sich über die Höhe
der Belohnung, denn sie verlieh ihm ein Gefühl von Bedeutung.
Dann fiel sein Blick auf das nächste Plakat
in der Reihe.
Es zeigte Eragon.
Rorans Magen krampfte sich zusammen, als
hätte man ihm in den Bauch geschlagen, und er vergaß einige
Sekunden lang zu atmen.
Er lebt!
Als seine erste Erleichterung abflaute,
spürte Roran, wie in ihm die alte Wut auf Eragon aufstieg, der der
Zerstörung ihres Hofes und dem sterbenden Garrow einfach den Rücken
gekehrt hatte. Gleichzeitig wollte er brennend gern erfahren, warum
das Imperium Eragon ergreifen wollte. Es
muss etwas mit dem blauen Stein und dem ersten Besuch der Ra’zac in
Carvahall zu tun haben! Erneut fragte sich Roran, in
welch finstere Machenschaften er und die anderen Dorfbewohner wohl
hineingeraten waren.
Statt einer Belohnung stand ein kurzer Text
auf Eragons Aushang. »Was wirft man ihm vor?«, fragte Roran
Gertrude.
Gertrude starrte mit zusammengekniffenen
Augen auf das Brett. »Hochverrat. Das gilt für euch beide. Da
steht, dass Galbatorix denjenigen, der Eragon fängt, mit einem
Fürstentum entlohnen will. Jeder, der es versucht, soll sehr
vorsichtig sein, weil Eragon außerordentlich gefährlich ist.«
Roran blinzelte erstaunt. Eragon... gefährlich? Es war unvorstellbar,
bis ihm bewusst wurde, wie sehr er selbst sich in den letzten
Wochen verändert hatte. In unseren Adern
fließt dasselbe Blut. Wer weiß, vielleicht hat Eragon ja noch mehr
vollbracht als ich, seit er fortgegangen ist.
»Wenn für deine Ergreifung zehntausend
Kronen ausgesetzt sind«, sagte Baldor leise, »was muss man dann
erst anstellen, um ein ganzes Fürstentum wert zu sein?«
»Dem König persönlich aufs Dach steigen«,
sagte Larne.
»Das reicht jetzt«, meinte Horst. »Hüte
deine Zunge, Baldor, sonst enden wir noch im Kerker! Und du, Roran,
errege bloß keine Aufmerksamkeit! Bei einer so hohen Belohnung
sehen sich die Leute jeden Fremden genau an und schauen, ob
irgendjemand deiner Beschreibung gleicht.« Horst fuhr sich mit der
Hand durchs Haar und zog den Hosenbund hoch. »Also gut. Jeder weiß,
was er zu tun hat. Kehrt gegen Mittag hierher zurück und erstattet
Bericht!«
Sie teilten sich auf: Darmmen, Larne und
Hamund gingen Verpflegung für die Dorfbewohner kaufen, für den
sofortigen Verzehr wie auch als Proviant für die nächste Etappe
ihrer Reise. Gertrude marschierte los, um - wie sie den Wachen
gesagt hatte - ihren Vorrat an Heilkräutern, Salben und Tinkturen
aufzustocken. Roran, Horst und Baldor begaben sich zum Hafen, wo
sie ein Schiff zu finden hofften, das die Dorfbewohner nach Surda
oder doch wenigstens bis nach Teirm bringen würde.
Als sie die verwitterte Uferpromenade
erreichten, blieb Roran stehen und starrte auf den Ozean hinaus,
der grau war unter den tief hängenden Wolken und mit weißen
Schaumkronen gesprenkelt vom sprunghaften Wind. Roran hätte nie
gedacht, dass der Horizont so flach sein konnte. Das hohle
Schwappen, mit dem das Wasser gegen die Pfeiler unter ihm schlug,
gab einem das Gefühl, man stünde auf einer riesigen Trommel. Der
Gestank nach Fisch, frischem, ausgenommenem und verwesendem Fisch,
überlagerte alle anderen Gerüche.
Horst schaute von Roran zu Baldor, der
ebenfalls fasziniert schien. »Das ist ein Anblick, was?«
»Ja«, meinte Roran.
»Da kommt man sich plötzlich ganz winzig
vor, stimmt’s?«
»Ja«, erklärte Baldor.
Horst nickte. »Das ging mir auch so, als ich
den Ozean zum ersten Mal sah.«
»Wann war das?«, fragte Roran. Neben den
über der Bucht kreisenden Möwenschwärmen bemerkte Roran noch andere
merkwürdige Vögel, die auf dem Pier hockten. Die Tiere hatten einen
plumpen Körper, einen gestreiften Schnabel, den sie wie ein
aufgeblasener alter Wichtigtuer an die Brust drückten, einen weißen
Kopf und Hals und einen rußschwarzen Körper. Als einer der Vögel
den Schnabel hob, entblößte er darunter einen ledrigen
Hautsack.
»Bartram, mein Meister«, erklärte Horst,
»starb, als ich fünfzehn war, ein Jahr vor dem Ende meiner
Lehrzeit. Ich musste mir einen Schmied suchen, der bereit war, die
Arbeit eines anderen zu beenden. Also bin ich nach Ceunon gereist,
einer Stadt am Nordmeer, und begab mich zu Kelton, einem launigen
alten Furzkopf, der allerdings sein Handwerk verstand. Er hat
eingewilligt, mich auszubilden.« Horst lachte. »Als es vorüber war,
wusste ich nicht, ob ich ihm danken oder ihn verfluchen
sollte.«
»Danken, finde ich«, erwiderte Baldor. »Ohne
ihn hättest du Mutter nie kennen gelernt.«
Roran runzelte die Stirn, als er den kleinen
Hafen betrachtete. »Besonders viele Boote sind das ja nicht«,
stellte er fest. Zwei Frachtschiffe lagen am unteren Ende des
Hafens vor Anker und ein drittes dümpelte im Norden, dazwischen
schaukelten nur Fischkähne und kleinere Ruderboote auf den Wellen.
Der Mast an einem der Frachter im Süden war offenkundig gebrochen.
Roran hatte keine Erfahrung mit Schiffen, aber keines davon schien
ihm groß genug für fast dreihundert Passagiere.
Roran, Horst und Baldor gingen von Schiff zu
Schiff und erhielten überall die Auskunft, dass die Gefährte
bereits belegt wären. Das Schiff mit dem gebrochenen Mast zu
reparieren, würde mehr als einen Monat dauern. Die Wellenläufer, die daneben lag, hatte
Ledersegel und würde in Kürze nach Norden in See stechen, zu den
gefährlichen Inseln, wo die Seithr-Pflanze wuchs. Und
die Albatros, das letzte der drei
Frachtschiffe, war gerade aus dem fernen Feinster eingetroffen und
sollte neu abgedichtet werden, bevor sie mit seiner Wollladung
weiterfuhr.
Ein Hafenarbeiter lachte über Horsts Fragen.
»Ihr seid gleichzeitig zu früh und zu spät gekommen. Die meisten
Schiffe, die hier im Frühjahr vor Anker gehen, sind vor zwei, drei
Wochen wieder ausgelaufen. In einem Monat setzen die Nordwestwinde
ein, dann kehren die Robben- und Walrossfänger zurück. Zu der Zeit
kommen viele Schiffe aus Teirm und aus dem Rest des Imperiums, um
Häute, Fleisch und Öl zu laden. Dann findet ihr vielleicht einen
Kapitän mit einem leeren Laderaum. Bis dahin herrscht hier nicht
mehr Betrieb als heute.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit, um von
hier nach Teirm Waren zu verschiffen?«, fragte Roran beinahe
verzweifelt. »Es muss ja nicht schnell gehen und auch nicht
gemütlich sein.«
»Tja...« Der Mann hob eine Holzkiste auf die
Schulter. »Wenn ihr es nicht eilig habt und nur bis Teirm wollt,
könnt ihr ja Clovis da drüben fragen.« Er deutete auf eine Reihe
von Bootshäusern, die zwischen zwei Piers lagen. »Er besitzt ein
paar Barken, mit denen er im Herbst Getreide verschifft. Den Rest
des Jahres lebt Clovis vom Fischfang, wie fast jeder in Narda.«
Dann runzelte er die Stirn. »Was für Güter wollt ihr denn
verschiffen? Die Schafe sind schon geschoren und das Getreide ist
noch nicht eingebracht.«
»Dies und das«, antwortete Horst ausweichend
und warf dem Mann eine Kupfermünze zu.
Der Hafenarbeiter ließ die Münze zwinkernd
in der Hosentasche verschwinden und stieß Horst verschwörerisch den
Ellbogen in die Rippen. »Recht habt Ihr, Herr. Dies und das. Ich
verstehe schon, aber habt keine Angst vor dem alten Ulric. Kein
Wort darüber, schon klar! Bis bald, der Herr.« Er schlenderte
pfeifend davon.
Wie sich herausstellte, war Clovis nicht am
Hafen. Nachdem sie sich den Weg hatten beschreiben lassen,
marschierten sie eine halbe Stunde zu seinem Haus, das auf der
anderen Seite von Narda lag, und trafen ihn im Garten an, wo er am
Weg zur Haustür Iriszwiebeln einpflanzte. Er war ein untersetzter
Mann mit sonnengegerbten Wangen und grau meliertem Bart. Es dauerte
eine Stunde, bis sie den Seemann davon überzeugt hatten, dass sie
trotz der Jahreszeit wirklich an seinen Barken interessiert waren.
Dann marschierten sie allesamt zum Hafen zurück, wo Clovis die
Bootshäuser aufschloss. Drei identische Barken kamen zum Vorschein,
die Annabell, die Edeline und die Rote
Bache.
Jede Barke war fünfundzwanzig Meter lang,
sieben Meter breit und rostrot angestrichen, hatte offene
Laderäume, die man mit Planen verdecken konnte, einen Segelmast,
der in der Bootsmitte aufgerichtet wurde, und am Heck - dem
Achterdeck, wie Clovis es nannte - eine kastenförmige Kabine.
»Sie haben mehr Tiefgang als eine
Binnenschute«, erklärte Clovis, »deshalb braucht man keine Angst zu
haben, dass sie bei rauer See kentern, aber einen ausgewachsenen
Sturm sollte man tunlichst vermeiden. Diese Barken sind nicht für
das offene Meer geeignet. Man bleibt mit ihnen immer in Sichtweite
der Küste. Und jetzt ist die schlechteste Jahreszeit, um mit ihnen
auszulaufen. Bei meiner Ehre, wir erleben seit einem Monat nichts
als Stürme.«
»Hast du Mannschaften für alle drei Boote?«,
fragte Roran.
»Tja… Das ist ein Problem. Die meisten
Männer, die ich beschäftige, sind seit Wochen auf Robbenfang. Da
ich sie normalerweise erst wieder nach der Ernte brauche, können
sie den Rest des Jahres kommen und gehen, wie sie wollen. Bestimmt
versteht ihr Herren meine Situation.« Clovis lächelte unsicher und
schaute zwischen Roran, Horst und Baldor hin und her, als wüsste er
nicht genau, wen er ansprechen sollte.
Roran ging an der Edeline entlang und suchte nach
Beschädigungen. Die Barke sah alt aus, aber das Holz war fest und
der Anstrich frisch. »Wenn wir die fehlenden Männer deiner
Mannschaft ersetzen, wie viel würde es dann kosten, mit allen drei
Barken nach Teirm zu segeln?«
»Kommt darauf an«, antwortete Clovis. »Die
Matrosen verdienen fünfzehn Kupferstücke am Tag, dazu kriegen sie
so viel zu essen, wie sie herunterschlingen können, und obendrauf
einen Becher Whiskey. Was eure Männer bekommen, ist eure Sache. Sie
stehen ja nicht auf meiner Lohnliste. Normalerweise heuern wir für
die Boote auch Wachen an, aber die sind -«
»Auf Robbenjagd, klar«, unterbrach Roran
ihn. »Wir stellen auch die Wachen.«
Clovis’ Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er
schluckte. »Das wäre mehr als vernünftig... Zusätzlich zur
Mannschaftsheuer berechne ich zweihundert Kronen plus Ersatz für
jeden Schaden, den eure Leute an den Booten verursachen, und
obendrein zwölf Prozent vom Verkauf der Fracht für mich als Eigner
und Kapitän.«
»Wir haben nichts zu verkaufen.«
Dieser Punkt schien Clovis zu missfallen. Er
rieb sich das Kinn, setzte zweimal zu einer Antwort an und hielt
jedes Mal inne. Schließlich sagte er: »In diesem Fall berechne ich
vierhundert Kronen nach Abschluss der Reise. Was wollt ihr
überhaupt transportieren, wenn ich mir die Frage erlauben
darf?«
Wir machen ihm
Angst, dachte Roran. »Vieh.«
»Schafe, Rinder, Pferde, Ziegen,
Ochsen?«
»Wir haben alle möglichen Tiere
dabei.«
»Und warum wollt ihr sie nach Teirm
bringen?«
»Wir haben unsere Gründe.« Roran lächelte
fast über Clovis’ Verwirrung. »Würdest du auch weiter segeln als
nur bis Teirm?«
»Niemals! Teirm ist die Grenze. Ich kenne
die Gewässer dahinter nicht und ich möchte auch nicht so lange von
meiner Familie getrennt sein.«
»Wann kannst du auslaufen?«
Clovis zögerte. »Vielleicht in fünf oder
sechs Tagen. Nein, besser in einer Woche. Ich muss vorher noch ein
paar Dinge erledigen.«
»Du bekommst zehn Kronen mehr, wenn wir
übermorgen in See stechen.«
»Das ist nicht -«
»Zwölf Kronen.«
»Na schön, übermorgen«, lenkte Clovis ein.
»Irgendwie werde ich das schon regeln.«
Roran nickte, ohne Clovis dabei anzusehen,
und strich mit der Hand über das Dollbord der Barke. »Könnten meine
Gefährten und ich uns vielleicht ein paar Minuten beraten?«
»Sicher. Ich drehe draußen eine Runde, bis
ihr euch besprochen habt.« Clovis eilte zur Bootshaustür. Bevor er
hinausging, drehte er sich noch einmal um und fragte: »Wie war noch
gleich dein Name? Ich habe ihn vorhin nicht richtig verstanden und
mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das Beste.«
»Hammerfaust. Mein Name ist
Hammerfaust.«
»Ah, natürlich. Das ist ein guter
Name.«
Als die Tür ins Schloss fiel, wandten sich
Horst und Baldor zu Roran um. »Wir können es uns nicht leisten, ihn
anzuheuern«, erklärte Baldor.
»Wir können es uns nicht leisten,
es nicht zu tun«, widersprach
Roran. »Wir haben weder das Gold, um die Barken zu kaufen, noch
weiß ich, wie man sie steuert, und ich möchte es auch nicht über
Nacht lernen müssen, wenn unser aller Leben von meinen
Navigationskünsten abhängt. Es ist schneller und sicherer, wenn wir
eine Mannschaft bezahlen.«
»Es ist trotzdem zu teuer«, sagte
Horst.
Roran trommelte mit den Fingern auf das
Dollbord. »Wir geben Clovis erst einmal die zweihundert Kronen. In
Teirm werden wir die Barken entweder stehlen und sie selbst
steuern, da wir bis dahin das Matrosenhandwerk gelernt haben
sollten, oder wir setzen Clovis und seine Mannschaft außer Gefecht,
bis wir auf andere Art weiterziehen können. Auf diese Weise sparen
wir die zusätzlichen vierhundert Kronen und die Heuer für die
Matrosen.«
»Es gefällt mir nicht, einen Mann um die
Früchte seiner Arbeit zu bringen«, wandte Horst unwillig ein. »Das
geht mir gegen den Strich.«
»Mir gefällt es auch nicht, aber hast du
einen besseren Vorschlag?«
»Wie sollen die Dorfbewohner auf die Barken
kommen?«
»Sie sollen irgendwo an der Küste auf uns
warten. Wir nehmen sie an einer Stelle an Bord, wo man uns von
Narda aus nicht beobachten kann.«
Horst seufzte. »Gut, so machen wir es,
obwohl es mir nicht schmeckt. Ruf Clovis wieder herein, Baldor,
dann besiegeln wir das Geschäft.«
Am Abend versammelten sich die Dorfbewohner
um ein kleines Lagerfeuer und ließen sich berichten, was in Narda
geschehen war. Roran starrte in die glühenden Kohlen und hörte zu,
wie Gertrude und die drei Brüder ihre Abenteuer schilderten. Als
sie Rorans und Eragons Steckbriefe erwähnten, machte sich ein
unbehagliches Raunen in der Runde breit.
Als Darmmen zu Ende gesprochen hatte,
ergriff Horst das Wort und berichtete in knappen Sätzen, wie wenig
Schiffe es in Narda gab, wie man sie an Clovis verwiesen hatte und
was sie mit ihm vereinbart hatten. Als er am Ende die Barken
erwähnte, ging seine Stimme in den wütenden Protesten der
Dorfbewohner unter.
Loring kam nach vorne und hob gebieterisch
die Arme. »Barken?«, fragte der Schuhmacher. »Barken? Wir wollen
keine stinkenden Viehkutter!« Er spuckte auf den Boden. Die Leute
grölten zustimmend.
»Ruhe!«, rief Delwin. »Man wird uns noch
bemerken, wenn wir so viel Krach machen!« Als nur noch das Knistern
des Feuers zu hören war, fuhr er etwas gelassener fort: »Ich stimme
Loring zu. Barken sind inakzeptabel. Sie sind zu langsam und man
kann sie leicht entern. Wir werden darin wie Tiere
zusammengepfercht sein und haben wer weiß wie lange keinen
nennenswerten Schutz über dem Kopf. Horst, Elain ist im sechsten
Monat schwanger. Du kannst doch nicht allen Ernstes verlangen, dass
deine Frau und die Kranken und Alten wochenlang in der glühenden
Sonne sitzen!«
»Man kann Planen über die Laderäume
spannen«, entgegnete Horst. »Das ist zwar nicht viel, aber sie
halten Sonne und Regen ab.«
Birgits Stimme erhob sich über das Gemurmel
der Leute. »Ich habe eine andere Sorge.« Die Leute rutschten zur
Seite, als sie ans Feuer herantrat. »Wenn man die zweihundert
Kronen für Clovis und das Geld, das Drammen und seine Brüder für
die Einkäufe ausgegeben haben, abzieht, sind unsere Rücklagen fast
erschöpft. Anders als bei den Städtern besteht unser Vermögen nicht
aus Gold, sondern aus Tieren und Feldern. Unser Land haben wir
aufgegeben und wir besitzen kaum noch Vieh. Selbst wenn wir uns wie
Piraten aufführen und die Barken stehlen - wie sollen wir uns in
Teirm Lebensmittel kaufen, geschweige denn weiter nach Süden
reisen?«
»Am wichtigsten ist«, brummte Horst, »erst
einmal Teirm zu erreichen. Dort können wir uns immer noch
überlegen, wie es weitergeht. Möglicherweise müssen wir
drastischere Maßnahmen ergreifen.«
Loring verzog das knochige Gesicht.
»Drastischere Maßnahmen? Was meinst du damit? Wir haben schon jede
Menge drastischer Maßnahmen unternommen. Diese
ganze Reise ist drastisch! Mir
ist egal, was du sagst. Ich werde diese verdammten Barken nicht
besteigen, nicht nach alledem, was wir im Buckel durchgemacht
haben. Barken sind für Getreide und Vieh gedacht. Wir wollen ein
Schiff mit Kajüten und Kojen, in denen wir bequem schlafen können.
Warum warten wir nicht einfach noch eine Woche, bis ein Schiff
kommt, auf dem wir eine Passage buchen können? Was kann es groß
schaden?« Er zeterte noch eine Viertelstunde weiter, bevor er
schließlich Thane und Ridley das Wort überließ, die ins gleiche
Horn stießen.
Alle hielten inne, als Roran aufstand. Er
ließ die Leute allein durch seine Ausstrahlung verstummen. Sie
warteten gespannt und hofften, dass er wieder eine seiner
flammenden Reden halten würde.
»Entweder besteigt ihr die Barken oder ihr
lauft«, erklärte er.
Dann ging er schlafen.